Vertigo

Vertigo

Um ihr Debütalbum fertigzustellen, lebte Griff zeitweise allein in verschiedenen Wohnungen und Airbnbs. So fand sich die als Sarah Griffiths geborene britische Singer-Songwriterin und Producerin in der alten Residenz der englischen Sängerin Imogen Heap wieder. Das Haus, das jetzt als Wohnstudio dient, war ein perfekter Ort für sie, um Songideen zu sammeln. Es war rund, und in der Mitte befand sich eine Treppe. Bei einem FaceTime-Gespräch mit ihrem Freund und Kollegen Congee bemerkten beide, dass einem von der Treppe schwindelig werden könnte – auf Englisch „vertigo“. Doch den Titel des Albums kann man auch vielschichtiger interpretieren. „Es geht um die Idee des Schwindels im emotionalen Sinn“, erklärt Griff gegenüber Apple Music. „Alle diese Songs sind aus einem autobiografischen, emotionalen Schwindelgefühl heraus geschrieben. Der physische Zustand von Vertigo ist die Erfahrung von Schwindel und Gleichgewichtsverlust, von der sich drehenden Welt und davon, dass man nicht wirklich in der Lage ist, sich in all dem zurechtzufinden.“ „Vertigo“ erscheint drei Jahre, nachdem Griff bei den BRIT Awards 2021 den prestigeträchtigen Rising Star Award gewonnen hat. Das Produzieren hatte sie sich als Teenagerin noch über YouTube beigebracht. Seitdem hat sich viel getan, aber ein Großteil der DNA dieses Albums basiert noch immer auf diesem DIY-Ansatz. „Fast alle Ideen habe ich selbst entwickelt, indem ich Beats und Texte geschrieben habe“, sagt sie. Dabei hat sie auch eng mit ihrem Kernteam Congee, Lostboy und Siba zusammengearbeitet, die, wie sie sagt, für sie „wie Brüder“ sind. Das Ergebnis ist ein Debüt, in dem es darum geht, Teile von sich selbst an die Zeit und den Schmerz zu verlieren und sich zu fragen, ob man sie jemals zurückbekommt – eine riesige Bandbreite an Gefühlen und Energie inklusive. Hier trifft ihre große, kraftvolle Stimme auf Synthesizer, Klavier und Gitarre, alles durchtränkt von Euphorie und Melancholie. „Ich finde es toll, dass man im Pop ein so breites Spektrum an Gefühlen haben kann“, sagt Griff. „Mein Ziel mit diesem Album ist es, dass die Leute bewegt sind, egal, ob sie tanzen und schreien wollen und es superkathartisch finden, oder all die Töne von Einsamkeit und Traurigkeit darin hören. Ich wollte die extremsten Emotionen ergründen.“ Hier taucht Griff in ihr Erstlingswerk ein, Track für Track. „Vertigo“ Dieser Song ist im Grunde echt simpel. Congee und ich haben ihn auf einer Note geschrieben und er verändert sich auch kaum. Erst später kommen Akkorde und die Bridge hinzu, damit es sich anfühlt, als würde er sich aufbauen. Auf dem Höhepunkt setzen wir immer mehr Synthesizer ein, die sich überlagern, um dieses Schwindelgefühl zu erzeugen. Ich liebe die Produktion und finde es toll, dass die Drums und der Rhythmus sehr vom Hip-Hop inspiriert sind, obwohl es ein Popsong ist. Sogar bei den BPMs haben wir uns von alten James Blake-Beats und von „808s & Heartbreak“ und Co. inspirieren lassen. Es macht Spaß, diese Art von Rhythmen und Grooves in einer Popmelodie zu verstecken. „Miss Me Too“ Ich wollte ein Lied darüber schreiben, wie man eine ältere Version von sich selbst zeitweise vermisst. Es geht darum, dass es mal eine Version von dir gab, die nicht so untröstlich war, nicht so zynisch gegenüber der Liebe und den Menschen. Sie hatte dieses Vertrauen in die Welt, das du vermeintlich verloren hast. Ich habe den Song mit Lostboy und Siba geschrieben – Lostboy kam mit den poppigen, fast tanzbaren Klavierakkorden dazu. Es fühlte sich richtig an, den Track supereuphorisch werden zu lassen. Ich mag die Idee, dass es nicht wirklich ein Liebeslied ist; es ist eher ein Gespräch mit dir selbst und darüber, wie du versuchst, wieder zu dir zu finden. „Into The Walls“ Das ist einer der ersten Songs, die ich für dieses Album geschrieben habe. Auch hier gefällt mir, dass es im Grunde kein Liebeslied ist. Eigentlich geht es darum, dass du an einem so tiefen, gefühllosen Punkt in dir bist, dass du auf die Mauern [engl. Walls] um dich herum schaust und fast neidisch auf ihre Existenz bist. Denn sie sind wenigstens stark, sie können etwas aushalten und sind in der Lage, die Welt vorbeiziehen zu lassen. Das ist fast mehr, als du von dir selbst sagen kannst. Es ist ein bisschen wie ein Strom des Bewusstseins. Es ist alles ziemlich genau so geblieben, wie ich es zuerst improvisiert habe. „Heute traue ich mir nicht zu, dass ich es kann“ – das ist die Essenz des Songs. Und es geht um die Fantasie, dass es schön wäre, zu verschwinden und eine Sekunde lang nicht in meinem Körper zu sein. Es ist eine eher unschuldige Metapher, aber auch sehr herzzerreißend. „19th Hour“ Das ist wohl der Song, den ich hauptsächlich für mich selbst geschrieben habe. Es geht darum, wie verletzend die Worte „Ich liebe dich“ sein können, wenn sie nicht ernst gemeint sind, sondern lediglich als letzter Ausweg gesagt werden, oder um alle Probleme zu kaschieren. Und es geht darum, schon fast zu optimistisch zu sein. Ich habe das Gefühl, dass wir in vielen Lebensbereichen pessimistisch sind, aber wenn es um diese eine Person geht, ist man aus irgendeinem Grund optimistisch. Du hoffst, dass der Mensch sich ändert, dass er bei dir bleibt und die Kurve kriegt. Man weiß, dass die Dinge wahrscheinlich nicht richtig sind, aber man will, dass sie richtig sind. Diese Produktion fasst für mich das gesamte Album zusammen, denn sie fängt sehr melancholisch an, steigert sich dann aber zu euphorischen Drums und diesen großen Stabs. „Astronaut“ Ich war allein in einem Haus und saß am Klavier. Ich begann mit dem Refrain: „You said that you needed space/Go on then, astronaut“ („Du hast gesagt, dass du Raum brauchst / Dann geh schon, Astronaut“). Er hat diesen augenzwinkernden Stil. Diese Zeile kam irgendwie aus dem Nichts und ergab Sinn für das, was ich zu schreiben versuchte. Es ist fast so, als würde man mit Ablehnung umgehen, indem man sagt: „Geh schon. Es tut zwar echt weh, aber geh schon.“ Alle haben diese seltsame Einstellung, wenn es ums Dating geht: Es gibt noch viele andere Fische im Meer, und alle denken ständig, dass das Gras grüner ist und es da draußen noch mehr gibt. Ursprünglich habe ich den Song auf dem Klavier geschrieben. Ich bin dann aber aus irgendeinem Grund davon abgekommen und habe ihn so produziert, dass er synthetisch, fast schon spacig klang. Ich bin so froh, dass wir ihn mit Chris [Martin] wieder auf das Klavier zurückgeholt haben, denn ich finde, der Text hat das verdient. Es war surreal, Chris dabei zu haben [Martin spielt auf dem Track Klavier]. Und es war sehr besonders. „Anything“ Im Prinzip handelt das Lied von dem Versuch, Folgendes herauszufinden: „Ist dir klar, was du für eine Macht über mich hast? Und wenn ja, macht es das noch schlimmer. Dabei lasse dich wissen, dass ich alles getan hätte, was du wolltest.“ Das ist der Grund, weshalb ich den Text hinausbrülle. Es ist, als ob du versuchst, zu dieser Person durchzudringen. Der Track ist aus der Perspektive einer jungen Frau geschrieben. Oft gibt es in Beziehungen ein Machtgefälle, vor allem, wenn es die erste echte Liebe oder das erste echte Gefühl der Verbundenheit einer anderen Person ist. Auch hier ist die Produktion superpositiv, kathartisch und episch, und ich liebe es, wie dramatisch der Text im Refrain ist. Die Bridge ist mehr eine Art Nachbetrachtung: Es geht um dieses Gefühl, dass dein Selbstvertrauen am Ende einer Geschichte komplett zerstört wird. „Pillow In My Arms“ Der Song erinnert am meisten an einige meiner früheren Stücke, da er wirklich nur von mir allein produziert wurde. Es geht um Einsamkeit und die Idee, dass du am Ende, wenn du alles oder jede:n verloren hast, vielleicht dein Kissen deine einzige Begleitung ist. Es erinnert mich fast an Miss Havisham in [Charles Dickens’] „Große Erwartungen“, die immer noch ihr Hochzeitskleid trägt. Du machst diese Verleugnung und diesen Wahnsinn durch und redest mit dem Kissen, als wäre es ein Mensch. Die Inszenierung hat diesen Groove, und sie ist wirklich simpel. Es ist dieser eine Riff am Anfang, der im Laufe des Songs immer weiter anwächst. „Cycles“ Ich habe mit Congee an einem Schreibcamp teilgenommen und wir wurden in einen Raum mit diesen beiden fantastischen Songwriterinnen, Vera [Carlbom] und Minna [Koivisto], gesteckt. Minnas DNA ist eher in der Dance-Welt angesiedelt, also war der ursprüngliche Track viel tanzbarer. Zu diesem Zeitpunkt war mir schon klar, dass es auf dem Album um das Schwindelgefühl und das Taumeln geht, also war es ganz natürlich, die Texte zu schreiben. Es geht darum, dass es keine lineare Chronologie des Herzschmerzes gibt – du denkst, du bist fertig, aber bist es nicht. Es ist ein endloser Kreislauf, und du bist erschöpft, aber an diesem Punkt machst du einfach weiter. Als ich nach London zurückkam, fragte ich Mura Masa, ob er Lust hätte, den Song zu reproduzieren. Wir haben vorher schon ein wenig zusammengearbeitet. Ich bin ein wirklich großer Fan seines Sounds. Er hat mich beeinflusst, als ich anfing, selbst zu produzieren. Man hört seinen musikalischen Stempel auf dem Track ganz genau – mit dem Song ging ein Traum in Erfüllung. „Tears For Fun“ Einer der wirklich euphorischen Songs. Ich wollte ihn vor einem großen Publikum singen. Ich würde sagen, dass das Konzept einer Frage an dich selbst oder an Gott entspricht: „Will I always be collecting tears for fun?“ („Werde ich immer nur zum Spaß Tränen sammeln?“) Es fühlt sich so an, als würde ich das im Moment tun. Der Refrain bewegt mich so sehr, dass ich ihn am liebsten schreien würde. Es gibt aber auch noch eine zweite Ebene, denke ich. Nämlich wenn du dich als Autor:in oder Kreative:r fragst: „Bringe ich mich selbst in diese Situationen, nur um der Geschichte willen?“ Das sind alles Fragen, die man sich stellt. Ich habe viel 80er-Jahre-Musik gehört, zum Beispiel „Only You“ von Yazoo. Ich wollte etwas davon in diesen Song einfließen lassen. „Hiding Alone“ In dem Song geht es um die eine Person, die quasi dein Energiefeld in der Welt ist. Diese eine Person in der Beziehung oder Freundschaft. Die, wenn du mit ihr zusammen bist, den Rest der Welt für eine Sekunde verschwinden lässt. Und diese Sicherheit galt als dein Fundament. Doch sobald sie nicht mehr da ist, fragst du dich: „Wow, wer bin ich? Was bin ich?“ Ich mag ihn, weil er einer der wenigen Gitarrensongs auf dem Album ist. Das fühlte sich einfach richtig an. „Hole In My Pocket“ Auf diesem Album gibt es eine Menge Metaphern und visuelle Analogien zum Thema Einsamkeit. Hier geht es um das Gefühl, ein Loch in der Tasche zu haben, weil du dir nicht erklären kannst, warum du an jenem Ort bist und Dinge verlierst. Alle Songs haben einen romantischen Touch, aber viele davon sind für mich nicht besonders romantisch. In diesem Lebensabschnitt verändern sich viele Beziehungen, abhängig davon, wie ich lebe – ob Covid, das Touren oder der Auszug von zu Hause und das Leben allein. Man wird erwachsen und denkt darüber nach, welche Beziehungen wichtig sind und welche nicht richtig waren. „Everlasting“ Ich möchte an das Unvergängliche glauben, daran, dass die Liebe andauern und gut sein kann. Aber oft trägt man ein wenig von dem Gepäck vergangener Generationen in die Beziehung hinein. Das ist, denke ich, vor allem dann der Fall, wenn du aus einem anderen ethnischen Hintergrund stammst, aber beispielsweise in Großbritannien aufwächst. Du hast eine andere Vorstellung davon, wie Beziehungen aussehen. Ich war mir immer bewusst, dass meine Erziehung nicht dem ordentlichen, sauberen Bild entspricht, das wir oft sehen. Ich war mir kulturell gesehen dessen immer bewusst, weil ich einen jamaikanischen Vater und eine chinesische Mutter habe. Mein ganzes Aufwachsen war auf so vielen Ebenen und auf so viele verschiedene Arten hektisch. Man wird in verschiedenen Phasen des Lebens damit konfrontiert. In der Schule etwa, wenn es um Schönheitsideale geht. Und wenn man älter wird, beeinflusst es die Beziehungen – eigentlich alles. Es ist eine komplexe Sache, die sich immer weiter auflöst. „So Fast“ Die Reise des Albums kommt hier nach einem langen Aufbauen an einen Punkt, an dem es fast ruhig ist, mit vielen nachdenklichen Momenten. Dies ist im Wesentlichen ein Folksong, und beinahe auch ein Liebeslied, aber nicht ganz – es ist immer noch aus der Perspektive der Einsamkeit geschrieben. Es geht um das Ende einer Nacht oder einer Party oder was auch immer, und du verbringst diesen Moment mit einer Person und denkst dir: „Eigentlich will ich nicht, dass du so schnell gehst, weil ich echt einsam bin.“ Aber es ist fast so, als wärst du zu einsam und zu höflich, um das direkt zu sagen. Also sagst du: „Du musst ja nicht gleich gehen, wenn du nicht willst.“ Gemeint ist eine Person, die ziemlich am Boden ist und sich nicht so recht traut, sich zu offenbaren. Es ist wie: „Alle anderen können gerne gehen, doch wenn du einen Moment hierbleiben könntest, wäre das wirklich nett.“ „Where Did You Go“ Ich habe den Song ungefähr zur gleichen Zeit wie „Into The Walls“ geschrieben. So versteht man, wo ich mit meinen Gedanken war. Ich glaube, es ist kein gewöhnlicher Popsong. Es fühlte sich richtig an, ihn mit Vocoder zu singen und Synthesizer-Elemente einzubauen. Die Geschichte handelt davon, dass ein Mensch aus deinem Leben verschwindet. Sie teilt sich in zwei Hälften. In der ersten heißt es: „Wo bist du hin? Ich habe überall nach dir gesucht“, und in der zweiten Hälfte sagt dieser Mensch: „Sorry, aber ich gehe.“ Für mich ging es um die Idee, aus dem Nest zu fliehen, und um die Schuldgefühle, die damit verbunden sind – wie ein Gespräch zwischen Eltern und ihrem Kind. Aber ich habe es offen gelassen; man könnte es auch in Bezug auf eine Beziehung hören. Das ist die Frage, um die sich das Album dreht. Und ich stelle sie mir selbst: „Wo bin ich hin?“

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